Die „Traumnovelle“ im Kontext der klassischen Moderne


Die Traumnovelle von Arthur Schnitzler erschien 1926 erstmals in Buchform bei dem Verlag S. Fischer in Berlin. Sie handelt von dem etwa 30jährigen Arzt Fridolin, welcher gemeinsam mit seiner Frau Albertine ein scheinbar normales, bürgerliches Leben in Wien nach der Jahrhundertwende[1] führt. Diese Harmonie ist jedoch trügerisch: während Fridolin vor seiner Hochzeit ein weitgehend freies Leben führen konnte, hat Albertine sehr jung geheiratet und entsprechend der damaligen Konventionen, sich für ihren Ehemann „aufgespart“. Das Wissen um voreheliche Beziehungen ihres Mannes und der Tatsache, dass sie, trotz dem Verlangen nach Kontakt in ihrer Adoleszenz, sich nicht verwirklichen konnte, führt zu einem ersten Konflikt in der Novelle, als beide gemeinsam ihre Zeit vor der Ehe rekapitulieren. Doch allein schon das Wissen um diesen Umstand führt bei Fridolin, welcher, der Zeit entsprechend, ein patriarchales Familienbild besitzt, zu Unmut und Eifersucht. Im Folgenden zeigt er Interesse an mehreren Frauen, darunter die verlobte Tochter eines verstorbenen Patienten sowie einer Prostituierten. Seine Gedanken, welche durch die Erzählinstanz häufig intern fokalisiert wiedergegeben werden, zeigen jedoch, dass er diese Frauen meist als Objekt betrachtet, ihnen sogar eine Triebhaftigkeit unterstellt und somit das menschliche in ihnen zu relativieren versucht. Höhepunkt seiner Suche nach sexuellen Abenteuern, die er innerhalb seiner Ehe nicht als verfänglich betrachtet, ist die Teilnahme an einer Orgie der gesellschaftlichen Elite, bei welcher die Männer Masken tragen, Frauen jedoch nackt sind. Dies unterstreicht nochmals die soziale Position der Frau zu jener Zeit. Allerdings wird Fridolin als nicht der Gesellschaft zugehörig erkannt und gezwungen, seine Maskierung abzunehmen. Eine solche Demaskierung hätte jedoch auch seine gesellschaftliche Ächtung zur Folge und eine der Frauen beschließt, sich an seiner Statt zu „opfern“. Resigniert geht er nach Hause und nötigt seine Frau, ihm von ihrem Traum zu berichten, aus welchem er bei seiner Rückkehr aufgeweckt hatte. Dieser Traum lässt sich als Höhepunkt der Novelle interpretieren und handelt von Fridolin, der gezwungen wird, der Liebhaber der Fürstin zu werden, sich jedoch aus Treue zu seiner Frau verweigert und daraufhin gefoltert und getötet wird. Alles unter Anwesenheit seiner Ehefrau, die keinerlei Mitgefühl empfindet und ihn sogar verhöhnt. Und obwohl Fridolin an selbigem Abend geneigt war, seine Frau zu betrügen, meint er, dass nun ihre Ehe endgültig gescheitert sei: „wie Todfeinde liegen wir nebeneinander“ (S. 62).

Dennoch vollzieht sich bei Fridolin einen Sinneswandel, als er am nächsten beginnt, sich für das Schicksal der Dame zu interessieren, die sich für ihn „aufgeopfert“ hat. Erstmals erkennt man, dass er fremde Frauen nicht nur als Ding betrachtet. So findet er (mutmaßlich) jene Frau im Leichenschauhaus des Krankenhauses, da er von einem Suizid einer Baronin in einem Luxushotel erfahren hat. Es wird jedoch nicht geklärt, ob es sich tatsächlich um einen Suizid oder Mord handelte, auch wenn einige textinternen Verweise eher auf letzteres hindeuten. Dieser Umstand führt schließlich dazu, dass er sich an der Seite seiner Ehefrau wieder behaglich fühlt und ihr von seinem „Abenteuer“ berichtet. Beide beschließen einen Neuanfang.

Schnitzlers Werk korreliert mit einer Reihe von Motiven, die für die Epoche der klassischen Moderne bezeichnend sind. Im Zentrum dieser literarischen Strömung steht ein radikaler Subjektivismus mit dem Willen, sich im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Dies trifft sowohl auf Fridolin als auch auf Albertine zu, wobei Albertine aufgrund gesellschaftlicher Konventionen lediglich das Verlangen danach spürt. Die Zerstörung des traditionellen Weltbilds durch wissenschaftliche Erkenntnisse zeigt sich in der Bedeutung der Träume, welche ein Leitmotiv der Novelle darstellen und sich an Sigmund Freuds Theorie der Traumdeutung orientieren. Auch der plötzliche Wunsch Fridolins, anstelle seiner Tätigkeit als praktizierender Arzt, sich wieder der akademischen Disziplin zu widmen, zeugt von der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaft (an einigen Stellen wird diese Verwissenschaftlichung durch die gehäufte Verwendung medizinischer Fachtermini besonders deutlich).

Die Tatsache, dass Triebe in der Erzählung eine bedeutende Rolle spielen (insbesondere Sexualität und Eifersucht), ist weiterhin Merkmal der Subströmung der Wiener Moderne innerhalb der klassischen Moderne:
„Schnitzler zieht nicht bloß auf eine Entlarvung bürgerlicher Konventionen. Bei ihm erscheinen vielmehr Liebe und Sexualität als völlig entleerte, bis zur Groteske verzerrte Rituale, denen weder ein sozialer noch ein individueller Sinn abzugewinnen ist:“ (Brenner 2011: 204)
Auch das Kaffeehaus, welches eine bedeutende Rolle innerhalb der Wiener Moderne spielt, ist in der Traumnovelle ein wichtiger Ort, nämlich derjenige, in welchem Fridolin den Beschluss fasst, zu jener Orgie zu gehen, die sinnstiftend für die gesamte restliche Handlung ist.

Zur Bedeutung der Novelle in der heutigen Zeit lässt sich festhalten, dass diese natürlich einen guten Einblick in die Wiener Gesellschaft zur Zeit der Jahrhundertwende bietet und soziale Konstellationen (wie das Familienbild und die Rolle der Frau) sowie den wissenschaftlichen Fortschritt darstellt. Von Aktualität hingegen ist insbesondere die Bedeutung der Träume und der Willen zur Selbstverwirklichung. Diese sorgen für den Konflikt innerhalb der Beziehung, sodass man sich fragen kann, inwiefern insbesondere Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf die Umwelt wirklich eine erstrebenswerte Maxime sei.

[1] Die Verwendung von Adelstiteln im Buch weist darauf hin, dass die Handlung vor dem Ende der Habsburger Monarchie spielen muss, da diese in ihrer Gesamtheit bereits 1919 mit dem „Gesetz vom 3. April 1919 über die Aufhebung des Adels, der weltlichen Ritter- und Damenorden und gewisser Titel und Würden“ abgeschafft wurden.

Verwendete Literatur:
Arthur Schnitzler (1926): Traumnovelle. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Peter Brenner (2011): Neuere deutsche Literaturgeschichte vom "Ackermann" zu Günter Grass. Berlin: de Gruyter.



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